Luis Buñuel - Irritationen und verkehrte Welt

Der folgende Vortrag wurde gehalten am 19.12.2000 an der Universität Augsburg im Rahmen der Reihe >Hispanicum. Offenes Seminar zur spanischen Kulturgeschichte<. Er wurde veröffentlicht in: "Hispanorama. Zeitschrift des Deutschen Spanischlehrerverbandes" Nr. 95, Nürnberg, Februar 2002.
HandOut (oder - besser: HandZettel) zum Vortrag.
Internet (eine recht informative Seite aus den USA (Berkeley) mit vielen Hinweisen und Tips.
Die im Text des Vortrags angeführten Abbildungen können durch einen Klick auf das angezeigte Symbol  aufgerufen und angeschaut werden.
Die Abbildungen sollen einen (ersten) Eindruck verschafffen - mehr nicht.

Ich war stets auf der Seite derjenigen, die die Wahrheit suchen, doch ich wende mich von ihnen ab, wenn sie die gefunden zu haben glauben. Sie werden dann oft Fanatiker, was ich verabscheue, oder Ideologen. Ich bin kein Intellektueller, und ihre Rhetorik schlägt mich in die Flucht. Wie alle Rhetorik. Für mich ist der beste Redner derjenige, der beim ersten Satz die Pistole zieht und auf das Publikum schießt.  (1)

— so spricht das bemerkenswerte Objekt des heutigen Abends. Die Tatsache, daß ich nicht auf Sie schieße erbittet Ihre Verzeihung für die Mängel der nun folgenden Rede (Ich werde hier selbst eine Mängelliste eröffnen, fügen Sie bitte Ihre Beobachtungen hinzu.). 

Oder — anders gesagt: Falls Sie die gewiß vorhandenen Mängel nicht entschuldigen wollen, bin ich leider gezwungen auf Sie zu schießen . . .

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1. Die wirkliche Welt — oder: Ein guter Schnitt

Lassen Sie mich beginnen mit der Abwandlung eines Zitats von Arno Schmidt: „Was ist die wirkliche Welt anderes als eine Karikatur unserer großen Filme." Dieses abgewandelte Zitat deshalb, weil es hier um die „andere, verkehrte Welt des Films" gehen soll; andere Welt deshalb, weil hier (wie in allen Künsten) Welt komprimiert gezeigt wird gemäß der Maxime: »Kunst ist Wirklichkeit auf die Spitze getragen«; verkehrte Welt deshalb, weil der Autor, um den es geht, in einem grandiosen Gegenentwurf, z.B. in der »Milchstraße« zeigt, wie unsere Welt (wie in einem Spiegel) wirklich beschaffen ist. — Soviel zum Lernziel.

37 große und kleine Filme umfaßt das Lebenswerk Luis Buñuels, geschaffen in 48 Jahren, gerahmt wird es durch ein Bild: 

Die sechste Einstellung des Drehbuches zu dem Film »Hineinlehnen verboten!« imaginiert ein Buch in Großaufnahme auf den Stuhl fallen, so daß eine Seite aufgeschlagen bleibt, auf der »Die Spitzenklöpplerin« von Vermeer van Delft abgebildet ist. (2)    Der Film wurde bekannt unter dem Titel »Ein andalusischer Hund« (Ursprünglich der Titel eines Gedichtbandes. — Auch das soll hier einmal gesagt werden: Es ist nicht Federico García Lorca gemeint, der sich irrtümlich angesprochen fühlte. Es ist (wie Buñuel sagt) das einzig Absurde im und am Film, in dem es weder einen Andalusier, noch einen Hund gibt.) – Die letzte Einstellung des Films »Dies obskure Objekt der Begierde« zeigt eine Frauenhand, die mit großer Sorgfalt eine zerrissene Spitze stopft. (Ein ähnliches Bild gibt es in »Belle de jour« mit Catherine Deneuve und es gibt weitere Beispiele.) Vielleicht treffen wir schon hier auf den im Leben Buñuels vorherrschenden Ordnungs- und Systematisierungszwang. Vielleicht wollte er mit dem letzten Bild seines letzten Films einfach nur einen ordnenden Schlußpunkt setzen. Es liegt nahe und ließe sich durch viele Belege untermauern.

Die erste These lautet also: Es gibt eine Ordnung, für jeden, für jedes Subjekt. Diese Ordnung ist bestimmt durch immer wiederkehrende Bilder und Inhalte (vgl. »Irritationen und Obsessionen«).
Die zweite These lautet: Es gibt nicht nur eine Welt. Es gibt (mindestens) zwei. Es gibt die eine, die wir zu kennen glauben, in der wir uns alltäglich bewegen und deren Gesetze wir z.T. definiert haben. Es gibt die andere, der wir täglich und vor allem nächtlich begegnen, deren Gesetze wir zwar erforschen, die uns aber dennoch weitgehend unbekannt ist. Diese zweite, andere, verkehrte Welt ist es, die uns interessiert und die uns im vorliegenden Werk entgegentritt.

Ein paar Worte zu diesem Bild: Dalí, der Mitautor des ersten Films, stellte es über Michelangelos „Jüngstes Gericht" (3) und drehte einen eigenen Film über dieses Werk. — Es ist ein kleines Bild, nur 24 x 21 cm groß. Ich habe Interpretationen gelesen, ich habe einen wissenden Kollegen befragt — ich könnte Ihnen jetzt eine ausführliche (materielle) Beschreibung (und vielleicht auch eine Erklärung des Bildes liefern, aber eine Deutung, die Ihnen überzeugend klarmachen würde, was Buñuel an diesem Bild faszinierte und warum er sein gesamtes kinematographisches Werk mit diesem Bild rahmte, dazu sehe ich mich nicht in der Lage. So wie es für Buñuel ein Geheimnis war, sollte es auch für uns eins sein und bleiben. Es ist schön. Auch Renoir konnte nicht erklären, warum es für ihn das schönste Bild des Louvre war. Womit ich mich (natürlich) nicht mit Renoir vergleichen will.

Wie gesagt: mit diesem Bild beginnt das Drehbuch des Filmes, die spätere Montage jedoch schiebt den am Ende des Buchs stehenden Prolog vor, und der beginnt mit einer der berühmtesten Szenen der Filmgeschichte:

In der deutschen Literaturgeschichte gibt es eine Metapher (ist es eine?), die mittlerweile zu Tode interpretiert wurde: Pauls Celans „Schwarze Milch". Vielleicht liegt es an der geistigen Verwandtschaft, die im Surrealismus begründet liegt, daß im Bereich der Filmkunst die entsprechende Nicht-Metapher, der es ähnlich erging, von Luis Buñuel stammt: das Auge bzw. der berühmte Schnitt durch ein Kalbsauge. Metapher, so sagt man, ist ein bildhafter Vergleich. Eine Hand durchtrennt ein Auge: Das ist ein Bild und weiter nichts. Es sei denn, der Zuschauer beginnt zu vergleichen mit Beispielen aus seinem eigenen Bildervorrat. Wenn nicht da noch der Mond und die Wolke wären, die sich ins Bild schieben.

Kurz eine Zusammenfassung des Filmprologes:

Nach dem  Vorspann der Zwischentitel:  Es war einmal

—  Buñuel schärft sein Rasiermesser
     raucht eine Zigarette
     prüft die Schärfe des Messers an einem Daumennagel
     tritt auf den Balkon

—  Mond: links  /  von rechts kommt eine schmale Wolke .
     Buñuel schaut

—  Gesicht der Schauspielerin
     Daumen und Zeigefinger öffnen ihr linkes Auge .
     das Rasiermesser fährt von rechts nach links über das Auge .
     die Wolke (schmal wie ein Rasiermesser) schiebt sich von rechts
     nach links vor den Mond .

—  das Rasiermesser durchtrennt von rechts nach links ein Kalbsauge

—  das Auge fließt aus .

—  der Film beginnt mit dem Zwischentitel:  Acht Jahre später

Während des Prologs ist ein Tango zu hören. — Nachdem er diese Szene gedreht hatte, mußte Buñuel eine Woche lang das Bett hüten; sein Magen und sein Geist hatten diese Arbeit nicht verkraften können.

Und schon habe ich einen Fehler gemacht: Die Wolke schiebt sich wie ein Wolke vor den Mond und nicht wie ein Rasiermesser; sie kann nämlich nicht anders. Natürlich darf mir hier das Rasiermesser einfallen (was läge näher), aber es ist und bleibt eine Wolke. Warum können wir uns nicht einmal vom Vergleichszwang frei machen und beide Bildsequenzen (Wolke — Rasiermesser) ausschließlich als Ergänzung zu unseren bereits vorhandenen Erfahrungen hinzunehmen. Es bedeutet nichts, es ist einfach nur da. Die Psychologin wird mit heftig widersprechen, aber das macht nichts.

Dennoch ist da jedesmal erneut dies Erschrecken über das ausfließende Kalbsauge. Warum? Wahrscheinlich weil uns wenig mehr treffen würde als der Verlust unserer Sehkraft; ist doch unsere Kultur (also das, wozu wir uns gemacht haben) durch diesen Sinn bestimmt und geleitet.

In einem Text zum Film schreibt Georges Bataille 1929:

Man weiß, daß der zivilisierte Mensch durch die Kraft von meist kaum erklärbaren Ängsten charakterisiert wird. Die Furcht vor Insekten ist zweifellos eine der seltsamsten und der am weitesten verbreiteten Ängste, zu denen man erstaunlicherweise auch diejenige zählen muß, die dem Auge gilt. Es scheint tatsächlich unmöglich zu sein, zum Thema des Auges ein anderes Wort als >Reiz< zu wählen, denn nichts an den Körpern der Tiere und der Menschen ist verlockender. Doch liegt die äußerste Verlockung möglicherweise gerade an der Grenze zum Schrecken. In dieser Hinsich könnte man das Auge mit der Scheide verbinden, ein Gesichtspunkt, der ebenfalls heftige und widersprüchliche Reaktionen hervorruft: und genau dies haben die Autoren von Ein andalusischer Hund auf ebenso furchtbare wie geheimnisvolle Weise bewiesen, als sie sich in den ersten Bildern des Films für die blutige Liebe dieser beiden Teile entschieden. Ein Schnitt mit dem Rasiermesser durch das ungeschützte, strahlende Auge einer jungen und charmanten Frau wird bis zur Tollheit von einem jungen Mann bewundert, den ein liegendes Kätzchen beobachtet und der, da er zufällig einen Kaffeelöffel in der Hand hält, plötzlich Lust bekommt, ein Auge auf den Löffel zu nehmen. (4)

Und da bricht unsere Welt zusammen. — Während in anderen (Eß-)Kulturen das Auge als Delikatesse gilt, wird es uns vorbehalten (außer im Leberkäs, wie mir vor Jahren ein Freund glaubhaft versicherte).

Bataille erwähnt in seinem Text die Insekten. Er stellt sie, was ihre Erschreckenskraft anbelangt, mit der Zerstörung des Auges auf eine Stufe. In einem der ersten Bilder nach dem Prolog kriechen Ameisen aus der Hand des Hauptdarstellers. Erneutes Erschrecken. Und so geht es weiter: Scheinbar ohne logische Folge werden die Szenen, die Bilder aneinandergereiht. Das würde allerdings voraussetzen, daß die Autoren die einzelnen Bilder und Szenen mit Hilfe eines Zufallsgenerators ausgewählt und aneinandergereiht hätten. Dem ist (mit Sicherheit) nicht so. Es ist ein surrealistischer Film, der seiner eigenen (surrealistischen) Vernunft folgt; es ist ein Film, der Träume aufzeichnet und wiedergibt, und Träume haben ja bekanntlich ihre eigene Ordnung, und die zu erforschen steht einem nur Literatur- bzw. Filmliebhaber nicht an. Dazu gibt es Fachleute. Ob die aber dem Filmkunstwerk gerecht werden können, das sei dahingestellt. Nehmen wir den »andalisischen Hund« als einen Traum, der uns an einem mühsamen Morgen ins Gedächtnis gerufen wird und der uns desweiteren verfolgen wird.

Zur Abschreckung vor und zur Heilung von einem übertriebenen Interpretationszwang hier ein Zitatz aus einer semi-professionellen Deutung. Es bezieht sich auf den Film »Viridiana« und einen dort gezeigten Gegenstand, der der Staatsgewalt zum Vorwand diente, den Film zu verbieten. (Dazu später mehr.)

Das Kruzifix-Messer, in seiner paradoxen Antinomie zugleich ein Symbol der Erlösung und des Meuchelmordes, versinnbildlicht exemplarisch den grundlegenden Topos seiner assoziativen Metaphernwelt vom Schein und Sein der bürgerlichen Gesellschaft, vom Biedersinn religiöser Eiferer, der sich in Lüsternheit verkehrt, von der Heuchelei vermeintlich ehrenhafter Männer und ihrer (selbst-)zerstörerischen Dimension, von einer Moral, die sich in Wahrheit als Unmoral entpuppt — eine doppelbödige Perspektive, die in Buñuels Werk auf der Diskrepanz zwischen dem Bildinhalt und der Bildbedeutung basiert und auf die unauflösbare Amibvalenz des menschlichen Daseins verweist. (5)

Was aber, wenn Bildinhalt gleich Bildbedeutung ist?

Soviel zu diesem Film und dem vielleicht berühmtesten Auge des Jahrhunderts. — Und hier die erste Mängelrüge:

Ich kann dem Werk Buñuels (hier) nicht nicht gerecht werden und muß vieles unberücksichtigt lassen, kann nur wenige Punkt herausgreifen.

Es fehlt in meinen Ausführungen der Film, der mir und vielen anderen Zuschauern der schönste, gelungenste, wichtigste zu sein scheint: »Das goldene Zeitalter«, 1930 entstanden. Um diesem Werk auch nur in Ansätzen gerecht zu werden, bräuchte ich mindestens eine weitere Stunde Redezeit.

Deshalb zwei Literaturhinweise:

1.  Der auf dem Handzettel angeführte Ausstellungskatalog aus dem Jahre 1994 enthält eine sehr umfassende Dokumentation (jede Szene ist durch entsprechende Abbildungen dokumentiert, alle Zwischentitel sind verzeichnet; desweiteren: das Exposé, das Szenario, ein unveröffentlichter Text von A. Breton und P. Eluard, eine ausführliche Beschreibung des französischen Nachrichtendienstes und viele weitere Bild- und Textdokumente.
2.  Aus der Fülle der Sekundärliteratur nur ein Titel: der ebenfalls auf dem Handzettel angegebene Essay von Peter Nau. Ich habe nichts besseres gefunden.

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2. Die verkehrte Welt — oder: Was ist Wahrheit?

- Lassen Sie uns ganz langsam und genießerisch (wer es denn kann) die folgenden Sätze des preussischen Philosophen Hegel lesen:

Oberflächlich gesehen ist diese verkehrte Welt so das Gegenteil der ersten, daß sie dieselbe außer ihr hat und jene erste als eine verkehrte Wirklichkeit von sich abstößt, daß die eine die Erscheinung, die andere aber das Ansich, die eine sie ist, wie sie für ein Anderes, die andere dagegen, wie sie für sich ist; so daß, um die vorigen Beispiele zu gebrauchen, das süß schmeckt, eigentlich oder innerlich am Dinge sauer, oder was am wirklichen Magnete der Erscheinung Nordpol ist, am innern oder wesentlichen Sein Südpol wäre; was an der erscheinenden Elektrizität als Sauerstoffpol sich darstellt, an der nichterscheinenden Wasserstoffpol wäre. Oder eine Handlung, die in der Erscheinung Verbrechen ist, sollte im Innern eigentlich gut sein (eine schlechte Handlung eine gute Absicht haben) können, die Strafe nur in der Erscheinung Strafe, an sich oder in einer andern Welt aber Wohltat für den Verbrecher sein.  (6)

Selten gibt es eine stimmigere, eindrucksvollere Übereinstimmung zwischen Text und Bild (eine Szene aus dem Film »Das Gespenst der Freiheit«). Zwei Grundbedürfnisse unsere Welt werden umgekehrt: die Nahrungsaufnahme und das Ausscheiden / Entleeren. Die feine Gesellschaft sitzt auf Kloschüsseln und führt gepflegte Gespräche. Überkommt einen Teilnehmer ein, im Hegelschen Sinne vekehrtes Bedürfnis, geht er zur Haushälterin und fragt diese diskret nach dem gewissen Örtchen. Dort, in einer Art Speisekammer angekommen, befriedigt er ungeniert seine „wirklichen" (?) Bedürfnisse. Eine ordinäre Szene : So verkehrt ist die Welt.

Slavoj Zizek hat diese Umkehrung auf eine Formel gebracht, die vielleicht verständlicher ist als die Sätze Hegels. Er unterscheidet dabei zwischen der Botschaft, die der Zuschauer in den Film hineinliest, und der Haltung, die den Film ausmacht, die ihn trägt:

„Gewiss, der Mensch ist ein Tier, das abscheuliche Dinge tut wie Scheiße ausscheiden, aber wir dürfen nicht vergessen, dass er auch edle Dinge tut, etwa den Akt des Essens (der Scheiße produziert) zu einem erhabenen gesellschaftlichen Ritual zu erhöhen." Die wahre Haltung dabei ist jedoch: „Gewiss, der Mensch tut manche wirklich angenehme Dinge wie zum Bei-spiel, sich auf der Toilette zu erleichtern, aber dennoch dürfen wir nicht vergessen, dass er dafür mit dem langweiligen Ritual des Essens bezahlen muß."  (7)

Da wir uns hier in einer Universität befinden, bewegen wir uns schleunigst aus der Welt unserer Grundbedürfnisse, unserer Triebe in die Welt des Geistes, ja — noch weiter — in die Welt der Transzendenz und landen in der Welt der »Milchstraße«. Ähnlich wie der »andalusische Hund« ist dieser 1969 gedrehte Film eine strukturierte Anthologie von Einzelszenen. Allerdings gibt es hier so etwas wie einen ‘roten Faden’ in der Gestalt zweier ‘Tippelbrüder’, die von Paris aus nach Santiago de Compostella unterwegs sind. Zu Beginn ihrer Reise begegnet ihnen ein Fremder, der ihnen Geld und den Auftrag gibt, in Santiago eine Prostituierte zu nehmen und Kinder der Prostitution zu zeugen, die die Namen „Du bist nicht mein Volk" und „Keine Barmherzigkeit mehr" tragen sollen. Der rätselhafte Fremde entfernt sich; doch plötzlich geht ein Kleinwüchsiger nehmen ihm (sein Sohn?), der eine Taube flattern läßt (der Heilige Geist?). Am Ziel ihrer Reise angekommen, erfüllen die beiden Clochards ihren Auftrag. Die Hure teilt ihnen mit, daß Santiago menschenleer sei, keine Pilger anzutreffen, da der Leichnam des Heiligen Jakobus sich als eine Fälschung herausgestellt habe.

Zur Interpretation dieses merkwürdigen Rahmens ein Zitat aus dem Alten Testament, aus dem Propheten Hosea:

Das Wort des Herrn, das an Hosea, den Sohn Beeris, in der Zeit erging, als Usija, Jotam, Ahas und Hiskija Könige von Juda waren und als Jerobeam, der Sohn des Joasch, König von Israel war.
So begann der Herr durch Hosea zu reden: Der Herr sagte zu Hosea: Geh, nimm dir eine Kultdirne zur Frau, und zeuge Dirnenkinder! Denn das Land hat den Herrn verlassen und ist zur Dirne geworden. Da ging Hosea und nahm Gomer, die Tochter Diblajims, zur Frau; sie wurde schwanger und gebar ihm einen Sohn. Der Herr sagte zu Hosea: Gib ihm den Namen Jesreel! Denn es dauert nicht mehr lange, dann werde ich das Haus Jehu für die Blutschuld von Jesreel bestrafen und dem Königtum in Israel ein Ende machen. An jenem Tag werde ich den Bogen Israels in der Ebene Jesreels zerbrechen. Als Gomer wieder schwanger wurde und eine Tochter gebar, sagte der Herr zu Hosea: Gib ihr den Namen Lo-Ruhama (Kein Erbarmen)! Denn von jetzt an habe ich kein Erbarmen mehr mir dem Haus Israel, nein, ich entziehe es ihnen. Mit dem Haus Juda jedoch will ich Erbarmen haben und ihnen Hilfe bringen; ich helfe ihnen als der Herr, ihr Gott, aber nicht mit Bogen, Schwert und Krieg, nicht mit Rossen und Reitern. Als Gomer Lo-Ruhama entwöhnt hatte, wurde sie wieder schwanger und gebar einen Sohn. Da sagte der Herr: Gib ihm den Namen Lo-Ammi (Nicht mein Volk)! Denn ihr seid nicht mein Volk, und ich bin nicht der »Ich-bin-da« für euch. (8)

In diesen Rahmen einer göttlichen Drohgebärde stellt Buñuel sechs wesentliche Dogmen der katholischen Kirche:
  • die Frage über die Natur Jesu,
  • das Dreifaltigkeitsproblem,
  • die Transsubstantiation,
  • die Allwissenheit Gottes und das Problem der Freiheit des Menschen,
  • die unbefleckte Empfängnis und
  • die Entstehung des Bösen.
  • Dabei interessieren ihn nicht die Dogmen selbst, sondern die Abweichungen, die Häresien. Und somit geht es nicht um Nächstenliebe, sondern um Inquisition, Verfolgung, Folter, Verbrennung und Tod. Abstrakte Glaubensinhalte werden recht anschaulich gemacht, so z.B. die Transsubstantiationslehre, die besagt, daß die Hostie der Leib Christi sei. Beispiel ist hier die Sekte der Pâthétisten (auf Deutsch: die Pastetisten), die die Auffassung vertritt, daß der Leib Christi genau so in der Hostie enthalten sei wie der Hase in der Pastete. In einer anderen Szene tragen ein Jesuit und ein Jansenit ihren Glaubensstreit mit dem Degen aus (vgl. Foto von Dreharbeiten: ); jeder Hieb wird begleitet von spitzfindigen Aussage der Kontrahenten. Aber am Ende steht immer wieder der Henker schon bereit: gut zu sehen auf einer Zeichnung des Drehbuchautors zu einer Szene aus dem letzten Drittel des Films: Bibel, Schwert und Henkerbeil begleiten die Glaubensverkündigung: .

    Die Gesetze von Raum und Zeit sind aufgehoben, die beiden Tippelbrüder scheinen direkt einem Schelmenroman entsprungen zu sein: Der Ältere erklärt dem jüngeren, warum er einen Bart trägt: Man sieht Maria, die ihrem Sohn klarzumachen versucht, daß er mit Bart doch um so vieler schöner aussehe. Stationen der Reise sind Kneipen und Herbergen, dort haben sie ihre Erscheinungen, vergleichbar den Erscheinungen des Don Quijote; nur daß sie keine Ritterromane im Kopf haben, sondern Devotionalienbilder (wie Frieda Grafe anmerkt (9 ). Es geschehen Wunder, warum sie geschehen wird nicht klar. Träume und Wünsche gehen in Erfüllung: der Papst wird exekutiert; ein Autofahrer, der die beiden Wanderer nicht mitnehmen will, bricht sich (ganz nach Wunsch) den Hals, etc. etc.

    Der erwachsene Zuschauer begegnet dem Religionsunterricht seiner Jugend wieder, wenn der denn gut und fundiert war und viel Wert auf Kirchengeschichte gelegt hat. — Allerdings nur der katholische Zuschauer, und der auch nur, wenn er gut aufgepasst hat.

    „Dort unten nützen die Tränen nichts mehr ... Wenn der äußerste Punkt des Lebens überschritten ist, ist keine Zeit mehr, Buße zu tun." Eine Beschreibung der Hölle von Luis da Granada. Sie tönt aus dem Radio des verunglückten Autos (s.o.), wird auf spanisch gesprochen von Buñuel, ins Französische übersetzt von einem schönen jungen Mann, einem gefallenen Erzengel, der seinen Pferdefuß in einer Dreckpfütze versteckt. Er rät den Gammlern, vom Diesseits zu profitieren und fürs Jenseits auf die Milde Gottes zu hoffen. Nicht ganz katholisch, diese Darstellung des Teufels, aber nicht unkenntlich. Eines jedenfalls geht klar aus diesem Bild hervor, dieser junge Mann ist nicht „der andere", der ferne Gegenpol Gottes. Er gehört dazu. (10)

    Es hört nicht auf. Der Fluß fließt, schwillt an und rollt weiter. Man kann immer nur wieder staunend zusehen, (wieder-)erkennen, erinnern.

    Jesus mit seinen Jüngern hetzt durch den Film im ständigen Wettlauf mit der Uhr, um rechtzeitig an die Orte zu kommen, an denen er, so wie es geschrieben steht, Wunder tun muß. Man muß (wirklich!) katholisch sein, um zu empfinden, was es bedeutet, diese saucen- und himbeerfarbenen Gewänder in Bewegung zu sehen. Man muß einen Teil seines Lebens, während nicht endenwollender Gottesdienste, den erstarrten Fluß dieser Kleider vor Augen gehabt haben, um die Subtilität von Buñuels befreiender Geste zu verstehen. Ikonoklasmus wäre zu affektbeladen. (11)

    Es ist eine Gegenwelt, eine andere Welt und doch die Welt, in der wir leben oder gelebt haben, denn alles ist wahr, so wahr wie es der Text, der über den letzten Bildern des Film zu lesen ist, behauptet:

    Alles, was in diesem Film über den katholischen Glauben und über die Häresien, die aus ihm entstanden sind, ausgesagt wird, entspricht genau der dogmatischen Position der Kirche.
    Die Texte und Zitate sind entweder der Heiligen Schrift entnommen oder stammen aus alten und modernen Werken der Theologie und Kirchengeschichte. (12)

    Das stimmt (bis auf wenige Ausnahmen) und stimmt doch wieder nicht. Denn in jeder Erinnerung zeigt sich die im Film abgebildete Welt anders: andere Farben, andere Bärte, andere Gesichter ... Die Welt der »Milchstraße« ist (um mal wieder mit Hegel zu sprechen) die Welt des Glaubens, so wie sie uns erscheint, was dort als negativ (resp. böse) erscheint (die Häresie), sollte in unserer wirklichen Welt (im Innern, wie Hegel sagt) als positiv erscheinen (können). Dann wären wir schon einen ganz schönen Schritt weiter, denn: Das Beste an der Religion ist, daß sie Ketzer hervorbringt, wie Ernst Bloch sagt. Und wenn die Ketzer wieder Ketzer hervorbringen, wird (irgendwann) die ganze falsche Gegenwelt (verkehrte Welt) verschwinden. Vielleicht.

    Luis Buñuel soll auch hier das letzte Wort haben: Wie Nazarín rief er (der Film) sehr widersprüchliche Reaktionen hervor. Carlos Fuentes sah in ihm einen antireligiösen Kampffilm, während Julio Cortázar sich zu der Behauptung verstieg, der Film käme ihm vor, als sei er vom Vatikan bezahlt.  /  Derlei Auseinandersetzungen um die Absichten interessieren mich immer weniger. Meiner Meinung nach war Die Milchstraße weder für dieses noch gegen jenes. Abgesehen von den authentischen Situationen und doktrinären Disputen, die im Film vorkommen, ist er für mich vor allem eine Wanderung durch den Fanatismus, bei der sich jeder gewaltsam an sein Stückchen Wahrheit klammert — bereit, dafür zu töten oder zu sterben. Außerdem fand ich, daß der Weg, den die beiden Pilger zurücklegen, gleichermaßen für politische wie für künstlerische Ideologien stehen kann. (13)

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    3. Irritationen und Obsessionen

    Zum Thema Irritationen und Obsessionen: Wir kehren die Reihenfolge um: zuerst also das (vielleicht) Positive.

    1972 kam Luis Buñuel anläßlich einer Festivalaufführung von »Der diskrete Charme der Bougeoisie« nach Los Angeles. Dort lädt ihn der Regisseur George Cukor zu einem Essen. Alle Größen Hollywoods sind versammelt; den stärksten Eindruck macht auf ihn ein Greis mit Augenklappe, der ihm versichert, er sei glücklich, daß er (Buñuel) wieder in Hollywood sei. Es war der Bedeutendste der Runde: John Ford. Ein anderer Großer, Alfred Hitchcock, erzählt ausdauernd von seinem Weinkeller und seiner Diät; vor allem aber drückt er seine uneingeschränkte Bewunderung über Tristanas abgeschnittenes Bein aus: „Ach, dieses Bein, dieses Bein ..."


    : "Tristanas Bein" und andere Obsessionen ...
    Wir erinnern uns: Der alternde Galan Don Lope nimmt eine junge Waise (Tochter eines Freundes) auf, und da er vor keinem Rock Halt machen kann, verführt er auch sie. Tristana lernt einen jungen Künstler kennen, verliebt sich. Es gibt eine heftige Affäre. Man lebt sich auseinander. Und auch hier: Sexualität ist Sünde, wurde zur Sünde gemacht. Tristana erkrankt, verliert ihr Bein. Man könnte (!) sagen: Es ist das Opfer, das sie bringen muß für ihre Abwendung von Don Lope, für ihre heftigen Emanzipationsversuche. Das Bein als Buße. Und das bei einem Autor, der uns einige der schönsten Frauenbeine der Filmgeschichte geschenkt hat. (Vielleicht war dies auch der Grund, daß er Catherine Deneuve für die Rolle der Tristana auswählte.)

    Auf der zweiten Abbildung sehen wir eine geniale Verknüpfung zweier Obsessionen: Hände legen sich auf ein (weibliches) Bein. Die menschlichen Gliedmaßen sind es, die die Bewegung bringen: nicht nur im banalen Sinn der Fortbewegung, auch im Sinn der Aneignung, der zärtlichen Berührung.

    Zur dritten Bildzeile:
    Ein immer wiederkehrendes Ritual, auf vielen Bildern festgehalten, ist für Buñuel das Karfreitagstrommeln in seinem Heimatort Calanda. Als Ton (hier leider nicht verfügbar) in einigen seiner Filme zu hören. Es muß ein Ereignis sein, das jeden Zuhörer in den Bann zieht.
    (Anekdote: Vor Jahrhunderten wuchs in Calanda einem jungen Mann, dem ein Bein amputiert werden mußte, das Bein wieder an, weil er auf Anraten der Jungfrau Maria den Stumpf mit Weihwasser einrieb - andere sagen anderes. Aus dem Holz der nun überflüssig gewordenen Prothese wurden Trommelstöcke geschnitzt. Sie befinden sich heute im Besitz der Familie Buñuel; und am Karfreitag trommelte Luis mit ihnen.)

    Rituale geben Sicherheit, man wohnt in ihnen. Das erste Bild der dritten Zeile ist ein Bild der Sicherheit: die Bußutensilien Viridianas geben ihr die Zuversicht, von ihren vorhandenen oder auch nicht vorhandenen Sünden befreit zu werden. Wo bliebe der gläubige Mensch, gäbe es dieses Ritual nicht? Die Form ist subjektiv, von Sünder zu Sünder verschieden. Und je größer der Skrupel, desto umfassender und differenzierter das Szenario. Ebenso das Essen: Der einfache Räuber Hotzenplotz nahm seine Hähnchenkeule in die Hand und los gings. Je differenzierter das System, desto komplizierter auch das Essen. Das kann gehen bis zu dem Punkt, an dem das Ritual umkippt: verkehrte Welt auf der Kloschüssel, wie wir gesehen haben. Wie wichtig das dritte Ritual für das Gefüge der Gesellschaft ist, braucht hier nicht begründet zu werden, es liegt auf der Hand.

    Zur vierten Zeile:
    1920 beginnt Buñuel das Studium der Insektenkunde (Entomologie), das aber auch nicht zu einem Ende geführt wird. Neun Jahre später kriechen Ameisen aus der Hand des Hauptdarstellers. Dies ausreichend zu erklären erfordert eine umfassende biographische Analyse. Es sind halt Ameisen. Außerdem stammt dieses Traumbild aus dem »andalusischen Hund« von Dalí; einige Interpreten tun so als sei es von Buñuel — es passt wohl besser!

    Vorlieben sollten besser nicht gedeutet werden, vor allem nicht bei einem Ordnungsfanatiker  wie Buñuel, der sich von jeder Stadt, in die er in den letzten Jahren seines Lebens kam, verabschiedete. Wichtig ist — und das hat er immer und immer wieder betont — daß er mit der Wahl der Tiere keine Aussagen machen wollte. Nichts herauslesen, was nicht hineingelegt wurde.

    Aus den Erinnerungen einige Zitate zum Thema Tiere:
         Ich liebe Spinnen und liebe sie auch wieder nicht. Es ist eine Besessenheit, die ich mit meinen Geschwistern teile. Faszination und Ekel in einem. Bei unseren Familientreffen können wir uns stundenlang über Spinnen unterhalten. Detaillierte und haarsträubende Beschreibungen!
    (...)
         Ich mag Blindschleichen, und ganz besonders mag ich Ratten. Abgesehen von den letzten Jahren, habe ich mein Leben lang Ratten bei mir gehabt. Ich habe sie vollständig gezähmt und ihnen meist ein Stück vom Schwanz abgeschnitten — Rattenschwänze sind sehr häßlich. Die Ratte ist ein aufregendes und sympathisches Tier. Als ich in Mexiko schließlich mehr als vierzig hatte, habe ich sie in den Bergen freigesetzt.
    (...)
         Ich liebe die Beobachtung von Tieren, vor allem von Insekten. Aber mich interessiert nicht ihr physiologisches Funktionieren oder ihre Anatomie in allen Details. Was ich liebe, ist die Beobachtung ihres Verhaltens.
     Ich bedaure, daß ich in meiner Jugend manchmal zur Jagd gegangen bin.
    (...)  (14)

    Also: Er liebte die Tiere, einige mehr, andere weniger, darum gab er ihnen einen Raum in seinen Filmen. Eine Obsession — meinetwegen.

    Wer sich näher mit diesen Obsessionen beschäftigen möchte, sei auf eine Ausstellung verwiesen, die im Sommer dieses Jahres (2000) im Münchner Instituto Cervantes zu sehen war:
    Die Bilder dieser Ausstellung stellen wiederkehrende Themen und Motive der Filme des aragonesischen Regisseurs nebeneinander und näher sich so nicht nur dem Werk, sondern auch dem Menschen Luis Buñuel, seinen Vorlieben und Obsessionen.
    Wir bewegen uns aus der Welt der Tiere, dem menschlichen Körper und seinen Gesten, Objekten des Alltags in ungewöhnlichen Ansichten, Symbolen und Ritualen. Diese Bilder entstammen zum großen Teil der Traum- und Vorstellungswelt Buñuels. Ihre Intensität geht auch nach mehrmaliger Variation nicht verloren. Vielmehr drängt die Unnachgiebigkeit, mit der Buñuel sich ihnen widmet, den Betrachter, ein Geheimnis zu suchen, das sich in der Gegenüberstellung motivischer Variation erahnen läßt.  (15)
    Wo diese Ausstellung zur Zeit zu sehen ist, kann man sicher in München erfahren (Telefon: 089-29071813).

    (Zu den Obsessionen gehört last but not least auch den Buñueloni und der Martini dry. Diese Cocktails sind so wichtig, daß Buñuel sie in seiner Autobiographie ausführlich beschreibt.)

    Zu den Irritationen:
    Sie können hier leider nicht demonstriert werden, da sie das Abspielen ganzer Sequenzen, ja ganzer Filme erfordern würden. — Einige Beispiele:

    In Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz will der Held einen einfachen Mord begehen, doch alle seine Versuche schlagen fehl. In Der Würgeengel kann eine Gruppe reicher Menschen nach einer Abendgesellschaft nicht die Schwelle überschreiten und das Haus verlassen. In Der diskrete Charme der Bourgeoisie haben wir den umgekehrten Fall; fünf Freunde wollen zusammen speisen, immer jedoch verhindern unerwartete Komplikationen die Erfüllung dieses einfachen Wunschs: Sie verwechseln den Termin für das Diner, die Polizei stürmt herein und durchsucht das Restaurant nach Drogen. Die (falsche) Wahrnehmung der Paare ist, daß das geplante Essen durchaus hätte stattfinden können und nur eine Reihe unglücklicher Umstände dies verhinderte — dabei fällt jedoch unter den Tisch, daß diese unglücklichen Umstände notwendig dazwischen kommen und das Diner sozusagen von der fundamentalen Struktur des Universums selbst vereitelt wird. In Nazarin, wo die Erzählung einem Munster endloser Demütigungen und Fallstricke folgt, muss der idealistische Priester Nazarin, dem das Leben eine Art Reise in Christi Fußstapfen ist, erkennen, wie seine Hoffnungen auf Befreiung ausgerechnet auf dem Weg zur Freiheit zuschanden werden. Letztendliche Einsicht Nazarins ist, daß alles, was er bislang als bloße Ablenkungen auf seinem Weg zur Freiheit abgetan hat — die zufälligen, unerwarteten Demütigungen und Fallstricke — , eben den Rahmen seiner tatsächlichen Freiheitserfahrung darstellen.
         Das Beispiel schlechthin, vielleicht der Schlüssel zu dieser ganzen Serie, ist Buñuels letzter Film Dieses obskure Objekt der Begierde. Hier schiebt eine Frau mittels einer Abfolge absurder Tricks den Vollzug des Geschlechtakts mit ihrem bejahrten Liebhaber immer wieder hinaus — so etwa entdeckt der Mann, als er sie endlich im Bett hat, unter ihrem Nachthemd ein altmodisches Korsett mit unzähligen Schnallen, die er unmöglich lösen kann.  (16)

    Dies ist deswegen ein Beispiel schlechthin, weil es, wie könnte es bei Buñuel anders sein, religiös geprägt ist. Wir haben die unerreichbare Transzendenz, die, wie könnte des bei Buñuel anders sein, (hier) im Sexuellen liegt: der Geschlechtsakt. Auf dem Weg dorthin türmen sich vor dem Suchenden, Strebenden, Gläubigen, egal wie wir ihn nennen, sehr triviale Hindernisse auf. Es gibt viele Namen für dieses transzendente Subjekt: Vernunft, Paradies, klassenlose Gesellschaft, Nirvana ... egal ...! Der Weg ist verbaut. Wir können nicht ins Ziel gelangen, der Glaube ist eine Illusion.

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    4. Respekt und Solidarität — und nicht: Blasphemie

    Der Film »Viridiana« soll uns Beispiel sein für eine besondere ‘Gattung’ im Werk Buñuels: die ‘gescheiterten Heiligen’ (die eigentlich zum Kapitel der „Irritationen" gehören) und er kann uns Beispiel sein für den Umgang der Justiz mit dem Werk des Autors.

    Zuerst eine Inhaltsangabe, verfasst vom Oberstaatsanwalt am Landgericht von Rom:
    »Viridiana« ist die Geschichte einer tieffrommen Novizin, die vor dem Ablegen der Gelübde in ihrem Kloster noch einmal zum Gut des Onkels Don Jaime, zurückkehrt und von diesem bedrängt wird. Don Jaime hat in der Hochzeitsnacht seine Braut verloren. Er ist ein Fetischist, der mit peinlicher Sorgfalt das Hochzeitskleid der Verstorbenen aufbewahrt. Weil er meint, Viridiana sehe der Toten ähnlich, verliebt er sich und bittet sie um ihre Hand. Viridiana verweigert sich. Der Onkel bringt sie dazu, das Hochzeitskleid anzuziehen, betäubt sie mit einem Schlafmittel, legt sie, wie eine Leiche, mit gefalteten Händen aufs Bett und ist versucht, sie zu vergewaltigen, nimmt dann aber Abstand von diesem Vorhaben. Als Viridiana aufwacht, läßt er sie in dem Glauben, er habe sie im Schlaf mißbraucht, um sie dazu zu bringen, bei ihm zu bleiben. Entsetzt weist das Mädchen ihn zurück und flüchtet aus dem Haus, um ins Kloster zurückzukehren. Doch der Alte bringt sich, von Gewissensbissen gepeinigt, um, nachdem er sie als Miterbin seines Gutes eingesetzt hat. Jetzt bekommt Viridiana ihrerseits Gewissensbisse, denn sie ist davon überzeugt, die Schuld an Don Jaimes Tod zu haben. In der Hoffnung, ihre Qual zu lindern, verzichtet sie auf den Schleier und widmet sich der Philantropie. In dem Landhaus, das sie mit ihrem Cousin Jorge und dem Dienstmädchen Ramona bewohnt, nimmt sie eine Gruppe finsterer Bettler auf, die sie ernährt und beten läßt. Für diese Art von Wohltätigkeit für einige wenige arme Menschen bringt der zweite Erbe des Gutes wenig Verständnis auf. Jorge, unehelicher Sohn Don Jaimes, lebensuntüchtig und skrupellos, möchte das Gut renovieren und modernisieren. Für ihn bedeutet Gutes tun Arbeiten, Schöpfen, Handeln. Und Viridiana ist am Ende dazu gezwungen, den Realitätsgehalt dieser Lebensanschauung anzuerkennen. Ihre Armen zeigen sich nämlich für ihre Großzügigkeit nicht erkenntlich, dringen eines Abends betrunken und lärmend ind das Wohnhaus ein und veranstalten ein Bankett, das zur Orgie ausartet. Viridiana kommt hinzu und wird von einem ihrer Schützlinge angefallen, doch Jorge rettet sie, indem er einen der Bettler dazu bringt, den rohen Kerl umzubringen. Das Mädchen, inzwischen völlig verwandelt, bietet sich ihrem Cousin an. Die letzten Bilder des Films zeigen, daß Viridiana einen anrüchigen Lebenswandel eingeschlagen hat und sich aller Wahrscheinlichkeit nach eine Dreiecksbeziehung mit Jorge und Ramona anbahnt.  (17)

     — soweit die Staatsmacht. Der Film wurde freigesprochen und durfte (in Italien) wieder gezeigt werden; nicht so in Spanien. Nachdem er in Cannes als offizieller spanischer Beitrag mit der Goldenen Palme geehrt worden war, kam es zum Eklat: Der Film wurde vom Minister für Tourismus und Information sofort verboten, der Generaldirektor des spanischen Filmwesens wurde entlassen. Das Verbot hat einen besonderen Reiz: Nachträglich wurde dem Produzenten die Drehgenehmigung entzogen. »Viridiana« ist also ein Film, der gar nicht  hätte gedreht werden dürfen.

    Buñuel schreibt in seinen Memoiren: Die Affaire machte ein solches Aufsehen, daß Franco sich den Film selbst vorführen ließ. Ich glaube, er hat ihn sich zweimal angesehen, und wie mir die spanischen Coproduzenten erzählten, fand er ihn gar nicht so besonders verwerflich — nach allem, was er gesehen hatte, muß er ihm wohl ziemlich harmlos vorgekommen sein.  (18)

    Ein Stein des Anstoßes war das bereits erwähnte Kruzifixmesser (wie es funktioniert zeigen die Abbildungen: ), ein Gebrauchsgegenstand in Devotionalienläden, zumindest in Spanien, zu Tausenden verkauft. Buñuel wurde auf das Messer aufmerksam, als er sah wie eine Nonne mit ihm eine Orange schälte. Es gehört im Film zur Hinterlassenschaft Don Jaimes und wird (nur kurz) von Jorge betrachtet und dann beiseite gelegt. Es soll also das Wesen des Verstorbenen charakterisiert und nicht die Religion verhöhnt werden. — So erkennt es auch der Staatsanwalt in Rom.

    Weitere Gegenstände, deren Herzeigen als Blasphemie-Beweis gelten sollte (siehe unten links):

    : Nachdem Viridiana im Haus ihres (noch lebenden) Onkels angekommen ist, packt sie ihren Koffer aus, der nur ein Nachthemd, eine Dornenkrone, Hammer und Nägel enthält. Auch hier bewiesen die Ankläger wieder einmal ungenügende Kenntnisse in Religion und Religionsgeschichte. Abgesehen vom Nachthemd, dienten diese Utensilien immer wieder als Hilfsmittel bei Bußübungen (wie bereits erwähnt). Also kann hier wohl nur der Unkundige von Blasphemie reden.

    Die mittlere Reihe der Abbildungen zeigt Viridiana, und zwar nach dem bekannten Schema: vorher — nachher: . Zu Beginn die tieffromme Novizin (wie der Staatsanwalt schreibt), am Ende die zu einem anrüchigen Lebenswandel bereite Frau (wie ebenfalls der Staatsanwalt schreibt). Dazwischen liegt ihre Begegnung mit der wirklichen Welt, die sie aus ihrer verkehrten Welt reißt, oder umgekehrt. — Womit wir wieder beim Hauptthema wären.

    Wie geschieht ein solcher Wandel? — Ich möchte ihn am Beispiel einer (ebenfalls inkriminier-ten) Szene deutlich machen:

    „Das letzte Abendmahl": .

    Wie das Bild entstand: Ich hatte die Szene mit der Wiedergabe des Abendmahles von Leonardo da Vinci, die dann so berühmt geworden ist, nicht vorgesehen. Aber als ich ins Studio kam und den Tisch, das weiße Tischtuch und die Aufstellung der Bettler sah, kam mit plötzlich die Idee. Ich gab dann die Anweisung, noch vier weitere Statisten zu holen. Denn, siehst Du, im Film sind nur neun Bettler und am Tisch sind es dreizehn. Wenn ich früher daran gedacht hätte, hätte es mich nichts gekostet, dreizehn statt neun im Film zu haben.  (19)

    Obwohl auch diese Bemerkung zur Vorsicht bei einer (vielleicht) vorschnellen Interpretation rät, kann man doch sagen, daß, zumindest für den Zuschauer, in diesem Bild alle Bewegungen des Films zusammentreffen. Wir finden, in der Karikatur verborgen, Viridianas religiösen Impuls, allerdings schon arg demontiert; wir finden hier auch ihre philantropischen Neigungen, bildhaft dargestellt in der Speisung der Armen, die jedoch in einer Orgie endet. Was wir vor allem finden, ist der Gegenschlag der wirklichen Welt gegen die verkehrte (oder umgekehrt). Nächstenliebe läuft ins Leere, kippt um und erreicht ihr Gegenteil: Die Ausgebeuteten werden Ausbeuter, die ihre Befreiung verhöhnen und ihre Wohltäterin lächerlich machen. .

    In keinen anderen Bild des Films wird die Vergeblichkeit allen Gut-sein-wollens so deutlich wie hier. Viridiana ist gescheitert und mit ihr ihre Caritas-Haltung. Und damit wird deutlich, wohin (nach Buñuel) jeder Glaube führen muß: zur Frustration und letztlich zum Scheitern gegenüber der realen Welt. Aber: Ist diese reale Welt die wirkliche Welt? Ist sie die verkehrte Welt? Am Schluß des Films verbrennt Viridianas Dornenkrone und so bewahrheitet sich der Kernsatz des Films:

    „Sieh mich an: ich tue Böses, sie tun Gutes. Aber was taugt dann ihr Leben? Sie auf der guten Seite, ich auf der bösen ... Weder sie noch ich sind zu etwas nütze."  (20)

    Viridiana gehört unsere und Buñuels Sympathie.

    Dieser Kernsatz wäre der Satz, den man über das gesamte Werk des Bauernjungen aus Calanda stellen könnte; er würde dies akzeptieren.

    Oder — um einen bekannten Satz eines bayerischen Geistesverwandten unseres Autors  zu zitieren — wie Herbert Achertbusch sagt:

    Du hast keine Chance, aber nutze sie.


    Mängelrüge Nr. 2:

    Ich bin nicht eingegangen auf den Dichter / Autor / Schriftsteller Luis Buñuel, auf seine Lyrik, seine Prosa, seine Essays. Ich habe seine fantastische Autobiographie zitiert, aber zu wenig gewürdigt als das Werk eines Menschen, der die Menschen und die Tiere liebte. Ich bin nicht eingegangen auf die vielfältigen Korrespondenzen zwischen literarischem und filmischem Werk (ein sehr schönes und dankbares Thema für eine Magisterarbeit!). Für dieses Versäumnis bitte ich um ihre Verzeihung; und: denken Sie an meine Eingangsworte!
    Lesen Sie bitte das Buch: »Die Flecken der Giraffe«; auf Ihrem Handzettel vermerkt.


    Lassen Sie mich zum Schluß kommen und gestatten Sie mir bitte, ein wenig persönlich zu werden, denn nur so kann es gelingen zu zeigen, wie Luis Buñuel für mich und dadurch auch für andere (ich unterstelle es, ich hoffe es) zum „Auge des Jahrhunderts" werden kann.

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    5. Luis Buñuel —   — oder: Das Auge des Jahrhunderts

    Ich muß nun etwas erklären:

    Zu Beginn seiner Karriere als Filmautor zerschneidet Buñuel ein Auge und wird krank. Das durch ein Rasiermesser geöffnete Auge sieht:
    Es wirft nun einen anderen Blick auf die Welt und eine neue Welt entsteht: eine Traum-, eine Gegenwelt. Es dauert lange, bis sich der Blick eingewöhnt hat, dann aber will er nur noch mit diesem Auge sehen. Und der Mensch, dem dieses Auge gehört, achtet den, der es zerschnitten hat. Später, wenn er wirklich gesehen hat, wird er den Täter lieben. — So erging es mir.

    Und das kam so:

    Anfang der 70er Jahre verkaufte ich im Münchner Filmmuseum die einzige wirklich lesenswerte Filmzeitschrift in deutscher Sprache: die „Filmkritik". Das Museum wurde geleitet vom Gründer dieser Zeitschrift: Enno Patalas. Es gab einiges zu lesen über und von diesem Regisseur; es gab viele Retrospektiven, u.a. auch eine (fast) vollständige Schau aller Filme Luis Buñuels. Der erste (prägende) Eindruck war: Das ist nur ein Film, alles Filme sind Teil eines Films. Der nächste Schritt lag nahe: Natürlich ist das nur ein Film, denn sie sind ja alle von einem Menschen gemacht und der geht (für dich) voll in diesen Filmen auf, er ist dieser Film. Das schafft Vertrauen.

    Ein viertel Jahrhundert später wäre Luis Buñuel ein Jahrhundert alt geworden. Und so waren viele seiner Filme noch einmal in einem Fernseh-Zusammenhang zu sehen. Der Unterschied zum Kino-Zusammenhang (Retrospektive) soll hier nicht erläutert werden. Hinzu kam die Einladung hier etwas zu diesem Autor zu sagen. Die Folge: Filme sehen, Bücher lesen. Die Folge davon: Ich begann das Objekt meiner Begierde zu lieben, zu lieben als einen Menschen, der die Menschen und die Tiere liebte.

    Beispiel: Federico García Lorca

    Bei meiner Lektüre fand ich einen Text, der vor 30 Jahren (zum 70. Geburtstag) von Helmut Färber, einem Autor der erwähnten „Filmkritik" (so schließt sich der Kreis) in der „Süddeutschen Zeitung" veröffentlicht wurde und in dem folgende, das Werk Buñuels zusammenfassend charakterisierende Sätze zu finden sind:

    Es ist eine dilettantische Aufklärung verbreitet, die noch immer nicht begreifen kann, daß ihr Spott gegen Irrationalismus für die Herrschaft der Gewalt gespottet ist. Der Surrealismus, Buñuels Filme, sind so wenig „gegen", wie sie „für" die Vernunft sind. Sie haben nur überall Vernünftigkeit und Ordnung als die Handlanger von Willkür und Unterdrückung gefunden.
    Wo immer in Buñuels Filmen Ordnungen sind, durch die das Zusammenleben der Menschen reglementiert ist, die Familie, die Klassen, die Polizei, die Moral, die Verwaltung, die Industrie, die Traditionen, die katholische Kirche, da ist auch die Gewißheit, daß keine Liebe sie bestimmt, sondern die Absicht, jede ungewöhnliche Regung eines Menschen im Keim zu ersticken, sei es auch nur dadurch, daß man ihm die Unzulänglichkeit der Mittel und die Ohnmacht einzureden versucht, sich dem allgemeinen Zwang wirksam zu entziehen; eine Unterdrückung, die in jeder Krisis, jedem Augenblick einer Entscheidung sofort mit natürlicher, zugleich fast grotesker Grausamkeit hervorbricht.
    Die katholische Religion, der katholischer Kultus sind Buñuel aufs innigste von seiner Kindheit an vertraut und bis heute vertraut geblieben in Bildern, die statt Erinnerungen undurchdringliche Rätsel sind. Auch das Christentum ist nur ein Heidentum. Man kann in Buñuels Filmen lernen, das christliche Europa mit der katholischen Kirche zu fürchten, die nicht die Gnade, sondern die Sünde organisiert. Darum haben bei Buñuel ihre Vertreter das Verhalten von Insekten. Die christliche Liebe, die Caritas wird von den Einzelnen geübt, die sich außerhalb ihrer Kirche und gegen die eigene Klasse zu stellen bereit sind. (21)

     — wie Nazarin, wie Viridiana, wie Buñuel, der seine Figuren liebte und nie verachtete. Wahrscheinlich ist dies der Grund für meine immer wieder erneute und erneuerte Hinwendung zu diesem Autor.

    Epilog

    Lassen wir am Ende den Menschen zu Wort kommen, der Luis Buñuel achtundfünfzig Jahre durchs Leben begleitete: Jeanne Buñuel. In ihren Erinnerungen schildert sie die letzten Tage ihres Mannes und seine Begegnung mit der Erfahrung, die sein Leben durchgängig prägte – mit dem Tod.

    In den Wochen vor seinem Tod führte Buñuel lange Gespräche mit Pater Julián, einem Dominikaner. In seiner Autobiographie schreibt der über diese Unterhaltungen: Öfter haben wir uns über den Glauben und die Existenz Gottes unterhalten. Da er bei mir auf einen unerschütterlichen Atheismus stößt, hat er einmal gesagt: Ehe ich sie kannte, spürte ich meinen Glauben manchmal wanken. Seit wir miteinander reden, ist er wieder völlig gestärkt." Das gleiche kann ich von meinem Unglauben sagen. (22)

    Jeanne Buñuel schreibt:

    Das Leben ist traurig. Etwa zehn Tage vor seinem Tod sagte Luis zu Pater Julián: „Es wäre gut, wenn Jeanne vor mir sterben würde. Was soll die Arme nur alleine machen?" Und wie sich durchs Leben schlagen ohne seine Hilfe und Anwesenheit? Aber ich habe ihn überlebt, und hier bin ich nun, allein in unserm Haus. In Wirklichkeit bin ich nicht allein, Luis ist weiter in meinem Kopf und in meinem Herz anwesend. Ich sehe ihn immer, hier im Haus. Ich kann seine Abwesenheit immer noch nicht fassen.
    Luis Zustand verschlechterte sich. Ich erhielt ein Telegramm von Rafael: „Komme morgen, um Papa zu sehen."
    „Luis, Rafael kommt, um dich zu sehen. Ist das nicht schön?" „Ja, ja, er kommt, um mich sterben zu sehen."
    „Das ist doch Blödsinn. Luis. Er hat Urlaub und will bei uns sein." Rafael kam des Morgens. Am selben Tag fíel Luis in ein Koma, und der Arzt ordnete seine Einweisung ins Krankenhaus an. Dort holten sie 18 Liter Wasser aus seinem Körper: mehr als 24 Stunden war er ohne Bewußtsein, dann kam er wieder zu sich. Er bat mich:
    „Jeanne, gib mir eine Zigarette."
    „Hier sind keine Zigaretten, Luis."
    „Doch, in der Nachttischschublade sind welche." „Luis, wir sind nicht zu Hause. Du bist krank geworden, wir sind im Krankenhaus."
    „In welchem?"
    „Im englischen."
    „Was wird das die Kinder kosten!" Luis dachte immer an die Kinder. Doktor Césarman kam, um ihn zu untersuchen. „Doktor, ich möchte eine Zigarette."
    „Aber natürlich, Don Luis." Der Doktor bot ihm eine an. Er rauchte sie mit Genuß. Am Morgen des 29. Juli 1983 legte ihn die Krankenschwester auf die Seite, damit sich sein Körper von der vorherigen Position erholen konnte. Ich rückte einen Stuhl ans Kopfende und legte seine Hände in meine. Nach einer Weile spürte ich, daß ihn etwas störte:
    „Wie geht es dir, Luis."
    „Ich sterbe."
    In diesem Augenblick merkte ich, daß sein Pulsschlag stehenblieb. Ohne ihn loszulassen drückte ich die Schelle und rief um Hilfe. In wenigen Sekunden kamen Ärzte und Krankenschwestern ins Zimmer, aber sie konnten nichts mehr tun: Luis war tot. Ich blieb an seiner Seite und hielt seine Hände. (23)

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    Anmerkungen:
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    1) Luis Buñuel: Die Flecken der Giraffe. Ein- und Überfälle, Berlin 1991, Seite 179.
    2) Yasha David (Hrsg.): ¿Buñuel! Auge des Jahrhunderts, Bonn 1994, Seite 365. 
    3) Vgl. A.a.O., Seite 284.
    4) Georges Bataille: Kannibalische Leckerei, a.a.O., Seite 134.
    5) Margarete Wach: Die Besessenheit. Hommage auf Luis Buñuel zum 100. Geburtstag, in: Filmdienst, Köln, Ausgabe 04/2000, Seite 8.
    6) Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/Main 1973. Seite 129.
    7) Slavoj Zizek: Obszöne Kehrseite. Wenn das Erhabene und das Lächerliche sich überlappen: Zum 100. Geburstag des Regisseuer Luis Buñuel, in: Die Zeit, Hamburg, Nr. 8 vom 17. 2. 2000, Seite 51.
    8) Hosea 1, 1-9 (Einheitsübersetzung).
    9) Frieda Grafe: La Voie Lactée, in: Filmkritik, Frankfurt/M, 1969, Heft 8, Seite 505.
    10) A.a.O., Seite 506.
    11) Ebda.
    12) Luis Buñuel: La voie lactée / Die Milchstraße, Frankreich 1969. 
    13) Luis Buñuel: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen, Königstein/Ts. 1983, Seite 237.
    14) A.a.O., Seite 215 ff.
    15) Buñuels Obsessionen. Eine Ausstellung des Instituto Cervantes, München 2000.
    16) Zizek, a.a.O.
    17) Pasquale Pedote (Oberstaatsanwalt, Rom), in: Yasha David, a.a.O., Seite 442-443.
    18) Buñuel, Seufzer, a.a.O., Seite 228.
    19) Luis Buñuel: Die Erotik und andere Gespenster. Nicht abreißende Gespräche mit Max Aub, Berlin 1992, Seite 47.
    20) A.a.O., Seite 104.
    21) Helmut Färber: Buñuel. Zu seinem 70. Geburtstag am 22. Februar 1970, in: Süddeutsche Zeitung, München, 21./22. 2. 1970.
    22) Buñuel, Seufzer, a.a.O., Seite 247.
    23) Yasha David, a.a.O., Seite 342.