Karl Philipp Moritz: Grundlinien zu einer künftigen Theorie der schönen Künste Das echte Schöne ist nicht bloß in uns und unserer Vorstellungsart, sondern außer uns an den Gegenständen selbst befindlich. Es gibt daher eine würkliche Theorie des Schönen, wodurch das Auge auf einen gewissen Punkt geheftet wird, aus welchem das Schöne notwendig beobachtet werden muß, wenn es gehörig soll geschätzt und empfunden werden. Dieser Punkt ist allemal in dem Kunstwerke selbst zu suchen; denn jedes echte Kunstwerk hat einen solchen Punkt in sich, wodurch alle seine Teile und, ihre Stellungen gegeneinander notwendig werden und aus diesem Hauptgesichtspunkte betrachtet, sich uns auch als notwendig darstellen. Je notwendiger nun alle einzelnen Teile eines Kunstwerks und ihre Stellungen gegeneinander sind, desto schöner ist das Werk; je weniger sie aber notwendig sind und je mehr, unbeschadet des Ganzen, noch hinzugetan oder davon abgenommen werden kann, desto schlechter oder mittelmäßiger ist das Werk. Durch die gehörige Betrachtung des echten Schönen in der Poesie muß der Geschmack zu der Schätzung und Betrachtung des Schönen in den Werken der bildenden Künste erst vorbereitet werden. Denn die Poesie beschreibt das Schöne der bildenden Künste, indem sie dieselben Verhältnisse mit Worten umfaßt, welche in der bildenden Kunst durch Umrisse bezeichnet werden. Die vollkommenste Darstellung der vollkommensten menschlichen Bildung ist der höchste Gipfel der Kunst, nach welchem sich alles übrige abmißt. Das Schöne schließt das Nützliche nicht aus; wenn es sich aber dem Nützlichen unterordnet, wird es zur Zierde. Aus der höchsten Mischung des Schönen mit dem Edlen entstehet der Begriff des Majestätischen. Wenn wir das Edle in Handlung und Gesinnung mit dem Unedlen messen, so nennen wir das Edle groß, das Unedle klein. Und messen wir wieder das Edle, Große und Schöne nach der Höhe, in der es über uns, unserer Fassungskraft kaum noch erreichbar ist, so gehet der Begriff des Schönen in den Begriff des Erhabenen über. Unsere Empfindungswerkzeuge schreiben dem Schönen sein Maß vor. Der Zusammenhang der ganzen Natur würde für uns das höchste Schöne sein, wenn wir ihn einen Augenblick umfassen könnten. Jedes schöne Ganze der Kunst ist im Kleinen ein Abdruck des höchsten Schönen im großen Ganzen der Natur. Der geborne Künstler begnügt sich nicht, die Natur anzuschauen, er muß ihr nachahmen, ihr nachstreben und bilden und schaffen so wie sie. Der höchste Genuß des Schönen läßt sich nur in dessen Werden aus eigner Kraft empfinden. Jeder Nachgenuß desselben ist nur eine Folge seines Daseins. Damit wir den Genuß des Schönen nicht ganz entbehren, tritt der Geschmack oder die Empfindungsfähigkeit an die Stelle der hervorbringenden Kraft und nähert sich ihr soviel als möglich, ohne in sie selbst überzugehen. Je vollkommener das Empfindungsvermögen für eine gewisse Gattung des Schönen ist, um desto mehr ist es in Gefahr, sich zu täuschen, sich selbst für Bildungskraft zu nehmen und auf die Weise durch tausend mißlingende Versuche den Frieden mit sich selbst zu stören. Was uns allein zum wahren Genuß des Schönen bilden kann, ist das, wodurch das Schöne selbst entstand: ruhige Betrachtung der Natur und Kunst als eines einzigen großen Ganzen; denn was die Vorwelt hervorgebracht, ist nun, mit der Natur verbunden, für uns eins geworden und soll, mit ihr vereint, harmonisch auf uns wirken. |