VorSpiel 2013 [ Peter Handke, Chronik der laufenden Ereignisse,
Frankfurt/Main 1971 (suhrkamp taschenbuch 3), Seite 8, 10, 12
* * * Gut, daß sie Haufen bilden - die Touris mit ihren Schäufelchen - und so gibt es immer wieder lichte Flecken, wo kaum einer von ihne zu sehen ist. Ein sehr angenehmes Klima (Sonne, 20°, leichter Wind) - so wie wir es uns verdient haben. Man könnte (fast) völlig / vollkommen entspannt sein. Wären da nicht immer wieder die völlig überflüssigen und doch quälenden Fragen. Die sattsam bekannten und nicht genannten. Die Zahl der Beobachtungsobjekte übersteigt mein Fassungsvermögen : zu viele Menschen, Tiere, Sensationen … - Zum Teufel : Warum empfinde ich Mitleid mit einigen dieser Exemplare? Weil ich auch nicht besser bin? Weil sie einem Scheiß-Leben und einem Scheiß-Ende entgegengehen? Ein kleiner Sandsturm verspricht und hält nicht : zumindest eine kleine Katastrophe. Schon die Kinder sind verdorben! Oder gerade richtig für diese Welt : so Ich-konzentriert, daß es weh tut. Selbstbezogene Ich-Vergessenheit-Versessenheit. Um mich herum gibt es keine Welt. Hoffentlich bleiben meine Gedächtnisausfälle auf die alltäglichen Nebensächlichkeiten beschränkt. Manchmal hat ein Scheißwetter auch seine guten Seiten : die Straßen sind (fast) wie leergefegt und der Blick wird weniger belästigt. Allerdings muss man das monotone Pladdern des Regens in Kauf nehmen. Das Musterbeispiel des salbadernden Klugscheißers im TV : der Pastor Hahne : nichts zu sagen, aber das un-mäßig hochtrabend … Ja heit is zünftich - es regnet den ganzen Tag … (Langeoog-Notizen)
* * * Thümmel 13 Ein Ding, eine Sache, ein Text, ein Mensch, ein Werk begleitet einen Menschen manchmal eine sehr lange Zeit. Ist treu, ist anhänglich, ist nicht zu verleugnen, klebt. Moritz August von Thümmel ist ein Beispiel. Nach 35 Jahren werde ich ihn (hoffentlich, leider) los. Mehr als in dieser (Gesamt-) Ausgabe, will ich nicht sammeln. So gesehen ist die vorgelegte CD-ROM als Speicherort auch (irgendwie) ein Grab. Ich kann (gelegentlich) hingehen und einen Blumenstrauß niederlegen (und etwas lesen). So zählt künftig M. A. v. Thümmel zu meinen vielen Hinterbliebenen. (22.7.) Juckelbrücke : LiteraturFachLeute müssen nicht immer "vom Fach" sein. Man findet sie überall und sie haben zu allem etwas zu sagen. Da sie immer in Eile sind und keine Zeit haben, da sie immer unterwegs sind, weil sie überall "gebraucht" werden, benötigen sie vielfache Hilfe. Sie bedienen sich aller Resourcen, die sie irgendwo herumliegen sehen. Sie springen auf fahrende Züge auf und geben sich als Lokomotivführer aus. Sie bringen nichts in Bewegung, weil sie nichts zu bieten haben. Man findet sie überall: vor allem in Redaktionen, an Universitäten - wo immer Leichen gefleddert werden können. Sie lassen es sich besorgen : von hinten von vorn von allen Seiten … (23.7.) Gelegentlich der Eindruck, daß die Herrschaften vor 250 Jahren (Herder z.B.) doch etwas lahmarschiger waren als heute. Mag wohl an dem unterschiedlichen Tempo / Geschwindigkeit der Zeit liegen. Auch in dieser Hinsicht ziehe ich das 18. Jhdt. vor. Es lässt Luft, es lässt den Atem frei. Und die Gedanken werden nicht zusammengepresst. (24.7.) * * * Was man so gezählt hat: 73.000.000 Fernseh-zuschauer (ab 3 Jahren) 80 TV-Sender (durchschnittlich) Sehdauer (täglich): 212 Minuten Verweildauer: 299 Minuten Was man nicht kann: Unterschiede machen bzgl. der Gewohnheiten (Auswahl der Programme, etc.) zwischen "gebildeten" und weniger gebildeten Zuschauern. Das ist nun eine recht neutrale Aussage. Ein Schul(vormitt)tag umfasst 6 Schulstunden á 45 Minuten = 270 Minuten. Die Bildungsinhalte der TV-Schule kann man jeder TV-Zeitschrift entnehmen. Und wem es dann immer noch nicht schlecht wird, dem ist nun nicht mehr zu helfen. Ich fühle eine heillose Barbarei aus dem Boden aussteigen. - Ich hoffe, krepiert zu sein, bevor sie alles mit sich gerissen hat. Aber einstweilen ist es nicht lustig. Nie haben geistige Interessen weniger gezählt. Nie waren der Haß auf alles Große, die Geringschätzung des Schönen, der Abscheu vor der Literatur so offenkundig. - Ich habe immer versucht, in einem Elfenbeinturm zu leben; aber ein Meer von Scheiße schlägt an seine Mauern, genug, ihn zum Einsturz zu bringen. Gustav Flaubert an Ivan Turgenev, 13. November 1872 [Woher kannte Flaubert unsere Fernsehwelt?] Nein nein nein - es ist nicht Altersmissmut oder Unzufriedenheit mit einem verpfuschten Leben … nein nein nein … Es ist wirklich eine nicht mehr zu übersehende zunehmende in unendliche Tiefen gehende Verblödung. Verblödung hier verstanden als das Gegenüber zur Bildung. Noch ist die Schrift das Transportmittel und die Literatur das Fahrzeug. Wenn eine Gesellschaft vor ihrer literarischen Kultur keine Achtung mehr hat, wenn die Achtung nicht so beschaffen ist, daß sie es als achtenswert empfindet, über diese Kultur einigermaßen Bescheid zu wissen, wenn sie also das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit - ihre Unbildung - nicht mehr als bedauerlichen Mangel empfindet, der nur durch die Bildung einer kulturellen Elite kompensiert werden kann, dann ist nichts mehr zu machen. Jan Philipp Reemtsma * * * "Ich habe doch nichts zu verbergen … " Selten wird ein so abgrundtief dummer Satz so oft und mit Nachdruck wiederholt. Hirnamputierte Scheißhaufen sind´s, die ihn mit lächerlich geschwellter Hühnerbrust bewußtlos in die Landschaft trompeten. Und ob ich etwas zu verbergen habe! Der größte Teil meines Lebens spielt sich in den eigenen vier Wänden ab; und ich möchte nicht, daß irgendein dahergelaufener Profalla mir bei diesem Leben zusieht. Hingegen darf Amazon wissen, daß ich mir die neue Dylan-CD gekauft habe oder kaufen werde und daß ich Filme von Godard (immer noch) sehen möchte. Dagegen möchte ich selbst entscheiden, wer mir beim Kochen zusieht … die geschmacklose Angela Merkel (morgens KZ-Gedenkstätte - abends Bierzelt) sicherlich nicht … beim Nasebohren darf mir jeder zuschaun … ! usw. Also : Ich entscheide über mich und sonst niemand …!!! 20.08 Irgendwie im Wahltaumel … und die lächerlichsten Sätze werden "produziert" … ein Kandidat hält das (hölzerne? blecherne?) Wort WORT … in Österreich gesehen: Liebe deinen Nächsten! - Ich liebe meine lieben Österreicher. Ja geht's noch?! Auf welch ein Niveau muss man (mensch?) herabsinken, um solch einen stinkenden Unsinn zu produzieren? 16.09 Aber was wir auch versuchen mit unseren Filmen, ist einfach, daß die Leute spüren sollen, daß man betro-gen wird, wenn man immer wieder auf etwas verzichten soll. Auf das, und dann auf das, um was zu haben, um Wohlstand zu haben oder Zuwachs. Was man da alles unterwegs aufopfert, für den Fortschritt undsoweiter, ist unmöglich, also ... Wenn keine Quellen mehr in den Bergen fließen, und das sieht man schon am Ätna, es gab keine einzige Quelle mehr, wir sind rumgefahren bis oben, unten, keine einzige. Und wenn die Luft überall verpestet ist, was hat man? Man hat das schon aufgeopfert, dann muß man auch tausend Gefühle aufopfern, wozu? (Jean Marie Straub) DIE NORDSEE - wild (manchmal) und manchmal auch wieder nicht Wie launisch ist dies Mächen! O Meer Mutter der Schönheit, der Schaumentstiegenen! Großmutter der Liebe! schone meiner! Ich finde kein Verhältnis zu ihr mit der ich ein Verhältnis habe Thalatta! Thalatta! Sei mir gegrüßt, du ewiges Meer! Rückzug auf die Insel : festen Boden unter den Füßen und dann beobachten was zu sehen ist draußen hinterm Deich das Dorf die Menschen Die Eingeborenen sind meistens blutarm und leben vom Fischfang. (...) Was diese Menschen so fest und genügsam zusammenhält, ist nicht so sehr das innig mystische Gefühl der Liebe, als vielmehr die Gewohnheit, das naturgemäße Ineinander-Hinüberleben, die gemeinschaftliche Unmittelbarkeit. Gleiche Geisteshöhe, oder, besser gesagt, Geistesniedrigkeit, daher gleiche Bedürfnisse und gleiches Streben... keine Autos hier - das macht konfus und zufrieden zugleich : Freiheit der Nasen??! (die 'lebendige' Insel: die durch die Gezeiten sich verändernde Gestalt: von West nach Ost...) das Dorf: geduckt, aber nicht auf dem Sprung eher geängstigt und dennoch stolz die vielen der See abgerungenen Siege Natur und Umwelt zer störung: den Zeigefinger der rechten Hand ausgestreckt auf die Schaumkronen deutend: "Da siehst Du die Kaputtheit der Nordsee!" ...sweet Jesus walking on the water... (The Violent Femmes) Botschaften: Beliebigkeit produziert Beliebiges aufgeweicht und fortgeschwemmt Flaschenpost(en) Die Wogen murmeln, die Möven schrillen, Alte Erinnerungen wehen mich an, Vergessene Träume, erloschene Bilder, Qualvoll süße, tauchen hervor. angeschwemmt vieles Zivilisation und Natur
: da kommt Entdeckerfreude aufUnd wenns genügend einsam ist wird jeder sein eigener Robinson Crusoe und zimmert sich seine Hütte am Strand ... Ich liege am Boden, Ein öder, schiffbrüchiger Mann, Und drücke mein glühendes Antlitz In den feuchten Sand. hart - trittfest Spuren zeichnen sich kaum ab bald verweht ist der Sand für den nächsten der nicht lange auf sich warten läßt erotisch die weichen Rundungen der Dünen bewohnt (!) & belebt (!) von unzähligen Hasen - : wenn das keine Anspielung ist monotones Rauschen wenig Empfindungen zeitweilig sogar Ermüdung das Auge sucht einen Halt Wir ziehn uns zurück suchen ein Haus der Tee: noch kalt der Kopf bald warm der Bauch dann Entspannung und Ruhe und Geborgenheit Es geht ein starker Nordostwind, und die Hexen haben wieder viel Unheil im Sinne. Ja! ich habe sie gesehen durch die wilden Büsche rasend körperlos überall Gestalten zeugend die mir Angst einjagen wollen dann wieder am Horizont tanzend und singend verführerisch und aufreizend Doch Rettung allein kommt aus Deinen Augen vielversprechend wenn wir aufm Deich ostwärts gehn zum Festland schaun auf Rettung hoffend Meine Freundin geht neben mir und ich bin beglückt Ich frage nicht länger und ich will auch nichts weiter wissen denn: mein Glück - ich habe es gefunden! Ich aber, der Mensch, der niedriggepflanzte, der Todbeglückte, Ich klage nicht länger. (1993) die "chronik der laufenden ereignisse" kann beginnen … mit dem festen vorsatz, sich nicht dreinreden zu lassen, von niemandem. mit 58 jahren habe ich genug befehle befolgen müssen, um mir jetzt ein befehlsfreies leben gönnen zu dürfen. Ich bin, der ich bin, kein anderer hat meine Pflichten, kein anderer darf für mich denken. Johann Benjamin Erhard Hat lange gedauert … Nun beneide ich die alten Zeiten. Beinahe bin ich entschlossen, alle meine Vorsätze, der Welt wichtig zu werden, aufzugeben und nur noch danach zu trachten, mich gemächlich tot zu leben. 2013
|